Grundlos nah
Es gibt Menschen, die scheinen in dich hineinzusehen, dachte Margret. Bis in die Tiefen deiner Seele, in die du selbst noch nie bewusst hinab gestiegen bist. In Margrets Freude, erkannt zu werden, mischte sich Angst und auch ein bisschen Missmut: Wer war er, der sie so anschaute, als würde er sie schon ewig kennen? Sich erlaubte, alles auszusprechen? Er benannte ihre Eigenschaften, las ihre Gedanken, ihre Ängste. Margret wurde unsicher, rankte grundlos Dornen um seine Worte. Er kam zu nah. Weil er in ihr sehen konnte, was sie selbst nicht anzusehen wagte. Noch nicht. Sie fühlte sich etikettiert, eingeordnet und damit doch wieder wie eine von Vielen. Dennoch wollte sie es aushalten lernen; sie wollte, dass er sie sah - solange er behutsam genug mit dem Gesehenen umging.
radicchia - So, 8. Aug, 15:12
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